Ukraine
23.02.2024
Zwei Jahre Krieg gegen die Pressefreiheit
Seit zwei Jahren riskieren Medienschaffende ihr Leben, um über Russlands vollumfängliche Invasion in die Ukraine zu berichten. Sie berichten aus stark umkämpften Gebieten, werden gezielt von russischen Streitkräften angegriffen und systematisch in den besetzen Landesteilen verfolgt. Doch auch die ukrainische Regierung setzt die Pressefreiheit mit einem der größten Überwachungsskandale der vergangenen Jahre und der fragwürdigen Unterstützung eines staatsnahen Programms unter Druck.
„Moskaus Krieg gegen die Ukraine ist auch ein Krieg gegen die Pressefreiheit“, sagt RSF-Vorstandssprecherin Katja Gloger. „Medienschaffende in der Ukraine brauchen weiterhin internationale Unterstützung! Die ukrainische Regierung muss aber auch alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Pressefreiheit unter Kriegsbedingungen zu verteidigen.“
Elf getötete Medienschaffende
Russlands vollumfängliche Invasion verschlechterte die Sicherheitslage von Medienschaffenden in der Ukraine drastisch: Seit dem Februar 2022 kamen insgesamt elf Journalistinnen und Journalisten während der Berichterstattung ums Leben. Die Mehrheit von ihnen wurde in den ersten drei Monaten nach Moskaus Großangriff getötet, mehr als die Hälfte kam aus dem Ausland. Die jüngsten Todesfälle stammen aus dem Frühjahr 2023: Im Mai 2023 verlor der französische Reporter Arman Soldin bei einem Raketenangriff in der Nähe der Stadt Bachmut sein Leben. Zwei Wochen zuvor erschoss ein russischer Scharfschütze den ukrainischen Reporter Bohdan Bitik in Cherson. Außerdem wurden 35 Medienschaffende in Ausübung ihrer journalistischen Tätigkeit verwundet.
Zudem werden zwei ukrainische Medienschaffende in Russland vermisst. Die Kriegsreporterin Viktoria Roschtschyna verschwand im August 2023 während des Versuchs, von Russland aus in die russisch besetzten Gebiete in der Ostukraine einzureisen. Am 3. August meldete sie sich zum letzten Mal telefonisch bei ihrer Schwester. Seitdem fehlt jegliches Lebenszeichen von ihr. Der Aufenthaltsort des seit März 2022 verschwundenen Journalisten Dmytro Сhyljuk konnte dagegen bestimmt werden: Nachforschungen von RSF zufolge wurde er zu Beginn der Invasion bei Kyjiw festgenommen und nach Russland verschleppt. Seitdem wird er in einem Gefängnis in Novosybkow an der Grenze zur Ukraine festgehalten.
Besonders gefährdet sind unabhängige Medienschaffende in den russisch besetzten Landesteilen der Ukraine: Dort verfolgen die Besatzungsbehörden systematisch Journalistinnen und Journalisten und setzen sie unter Druck, um sie zur Arbeit für russische Propagandamedien zu zwingen. Mindestens zwölf Reporterinnen und Reporter wurden bisher festgenommen. Zuletzt nahm der russische Inlandsgeheimdienst FSB im August 2023 im südukrainischen Melitopol sechs Mitarbeitende der Telegramkanäle RIA Melitopol und Melitopol Ze Ukrajina (Melitopol gehört zur Ukraine) fest. Ihnen werden unter anderem Landesverrat, Spionage und Aufruf zum Terrorismus vorgeworfen. Den Medienschaffenden drohen Haftstrafen bis zu 20 Jahren. Bereits im April 2022 hatte der FSB auf der russisch besetzten Halbinsel Krim die ukrainische Bürgerjournalistin Irina Danilowitsch festgenommen. Sie wurde wegen angeblichen Besitzes von Sprengstoff zu sieben Jahren Haft verurteilt. Danilowitsch leidet unter einer schweren Mittelohrentzündung und erhält keine angemessene medizinische Behandlung. Im Juli 2023 wurde sie von der Krim in ein Gefängnis im südrussischen Stawropol verlegt.
Größter Überwachungsskandal seit vielen Jahren
Die Pressefreiheit in der Ukraine geriet aber auch von staatlicher Seite massiv unter Druck: Mitte Januar 2024 wurde ein Video mit heimlich gefilmten Mitarbeitenden der Rechercheplattform Bihus.info bekannt, das diese beim Konsum von Drogen zeigt. In dem Clip werden auch Ausschnitte offensichtlich abgehörter Telefonate zwischen den Medienschaffenden verwendet. Der Kurzfilm legt nahe, dass Angestellte des Mediums über einen längeren Zeitraum überwacht wurden. Nach Recherchen von Bihus.info soll der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU verantwortlich sein. Die Abhöraktion gilt als größte Geheimdienstoperation zur Diskreditierung von Medienschaffenden der vergangenen Jahre. Mehr als 30 SBU-Mitarbeiter sollen an der Überwachungsaktion beteiligt gewesen sein. Als Folge des Skandals wurde der Leiter der Staatschutzabteilung des SBU entlassen. Der ukrainische Generalstaatsanwalt begann Ermittlungen wegen des Verdachts der Behinderung der Arbeit von Medienschaffenden und Amtsmissbrauch. Außerdem wurden im Januar zwei weitere Fälle bekannt, in denen Medienschaffende bespitzelt oder unter Druck gesetzt wurden. RSF fordert eine zügige Aufklärung der Fälle. Recherchen über Korruption müssen auch unter Kriegsbedingungen ohne Angst vor Repressionen weiterhin möglich sein
Regierung sollte Telemarathon beenden
Problematisch ist aus Sicht von RSF zudem die Rolle des sogenannten Telemarathon. Bei diesem handelt es sich um ein Nachrichtenprogramm, das die größten TV-Kanäle der Ukraine seit Beginn der russischen Invasion gemeinsam produzieren und ausstrahlen. Das 24-Stunden-Format kam auf Initiative der größten ukrainischen Fernsehsender zustande, im März 2022 verpflichtete ein Erlass des Präsidenten sämtliche Nachrichtenkanäle zur Ausstrahlung. Das ursprüngliche Ziel des Programms: Verlässliche Informationen in der von Panik und Chaos geprägten Zeit unmittelbar nach dem russischen Überfall zu verbreiten und der Bevölkerung eine Orientierungshilfe geben.
Doch nachdem sich die Lage an der Front stabilisiert hatte, geriet der Telemarathon in die Kritik. Zum einen hatte das Präsidialbüro von Wolodymyr Selenskyj unter wenig glaubhaften Begründungen die Mitwirkung an dem Programm von drei Sendern aus dem Umfeld von Ex-Präsident Petro Poroschenko abgelehnt – und ihnen anschließend die digitalen Sendelizenzen entzogen. Zudem wurde dem Programm eine unkritische Haltung gegenüber der Regierung vorgeworfen. Probleme würden verschwiegen, Oppositionspolitiker oft gar nicht erst in die Sendestudios eingeladen. Auch die großzügige staatliche Finanzierung des Programms – im laufenden Jahr sind umgerechnet mehr als 37 Millionen Euro vorgesehen – sorgte mit Blick auf die angespannte Finanzlage der meisten Medien für Unmut. Zusätzlich sinken die Beliebtheitswerte des Formates stetig: Die Einschaltquote liegt aktuellen Umfragen zufolge bei etwa zehn Prozent. Immer weniger Ukrainerinnen und Ukrainer vertrauen der Sendung. Nur etwas mehr als 20 Prozent der Befragten halten den Telemarathon noch für relevant. Vor diesem Hintergrund sollte die ukrainische Regierung die Ausstrahlung des Formats einstellen und die freiwerdenden Gelder zur Unterstützung unabhängiger Medien verwenden.
Fortschrittliches Mediengesetz muss weiter verbessert werden
Grundsätzlich begrüßt RSF die Annahme des neuen Mediengesetzes der Ukraine. Dieses trat am 31. März 2023 in Kraft und gab dem Land mitten im Krieg ein modernes Regelwerk für die Arbeit von Presse, Rundfunk und Onlinemedien. Zudem schränkt es den Einfluss der Oligarchen auf die Medien ein und macht die Eigentumsstrukturen von Medienhäusern transparenter. Darüber hinaus weitet es – wie von der EU gefordert – die Kompetenzen der nationalen Medienaufsichtsbehörde aus. Die Annahme des fast 300-seitigen Gesetzes war eine Bedingung für die Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen.
RSF sorgt sich jedoch um die Unabhängigkeit des Gremiums. Grund dafür ist das Verfahren zur Ernennung seiner acht Mitglieder: Vier werden vom Präsidenten bestimmt, vier vom Parlament. Da Wolodymyr Selenskyjs Partei Sluha Narodu gegenwärtig über eine parlamentarische Mehrheit verfügt, kontrolliert der Präsident die Zusammensetzung des Kontrollorgans somit vollständig. Dieses Problem ist momentan jedoch nicht lösbar: Das Ernennungsverfahren ist in der ukrainischen Verfassung verankert und darf unter dem geltenden Kriegsrecht nicht geändert werden.
Andere Verbesserungen des Gesetzes sind aus Sicht von RSF bereits jetzt möglich: So sollte beispielsweise die Definition von strafbarer Hassrede in den Medien ausgeweitet werden. Bisher werden sprachliche Angriffe aufgrund von nationaler, rassistischer und religiöser Diskriminierung strafrechtlich geahndet. Aber auch Hassrede aufgrund von sexueller Identität, körperlichen Einschränkungen und anderen Merkmale sollten strafbar sein.
Verbesserter Zugang zur Front für Medienschaffende
Seit dem 3. Februar 2024 ist das sogenannte Ampelmodell gelockert. Dieses erschwerte Medienschaffenden seit Beginn des vergangenen Jahres den Zugang zur Front. Die Regelung teilte Frontgebiete in rote, gelbe und grüne Zonen ein. Das Betreten der roten Zone war für Journalistinnen und Journalisten verboten. In der gelben Zone war Berichterstattung nur in Begleitung eines Presse-Offiziers – oder eines anderen vom Militär zugeteilten Begleitenden – erlaubt. In der grünen Zone durfte ohne Einschränkungen journalistisch gearbeitet werden.
Der nun gelockerten Regelung zufolge dürfen akkreditierte Medienschaffende in Begleitung von Vertretern der Armee auch aus den roten Zonen berichten. In den gelben Zonen ist eine Begleitung durch einen Presse-Offizier nur noch notwendig, wenn über militärische Einrichtungen berichtet wird. Außerdem wurde die Dauer der Akkreditierung von Medienschaffenden auf zwölf Monate verlängert. Die Armee hatte den Gültigkeitszeitraum der Akkreditierung im vergangenen Jahr auf ein halbes Jahr beschränkt. Zuvor hatte es keine zeitliche Begrenzung gegeben.
Wie RSF ukrainische Medienschaffende unterstützt
Seit Februar 2022 hat RSF etwa 1500 Medienschaffende in der Ukraine mit Schutzausrüstung und finanzieller sowie psychologischer Hilfe unterstützt. Zwei Pressefreiheitszentren in Lwiw und Kyjiw verleihen kugelsichere Westen, Helme und Erste-Hilfe-Kästen an Medienschaffende. Mehr als 90 Redaktionen erhielten Generatoren und andere Stromversorgungsgeräte. 35 ukrainische Medien – mehr als die Hälfte davon in Frontnähe – können ihre Arbeit aufgrund finanzieller Zuschüsse von RSF fortsetzen. Im Herbst 2023 organisierte RSF zusammen mit dem Lviv Media Forum (LMF) einen einwöchigen Erholungsaufenthalt in den Karpaten für 95 vom Krieg schwer belastete Journalistinnen und Journalisten.
Seit Beginn der russischen Invasion hat RSF insgesamt acht Strafanzeigen beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gegen Russland wegen Verbrechen gegen Medienschaffende eingereicht.
In der Liste der Pressefreiheit belegt die Ukraine Platz 79 von 180 Staaten.
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