Ungarn
16.07.2021
Feind der Medien wirksam bekämpfen
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat mit einem sarkastischen Video auf die Einstufung als „Feind der Pressefreiheit“ durch Reporter ohne Grenzen (RSF) reagiert. Ungarische Regierungsaccounts verbreiteten auf Facebook und Twitter ein 80-sekündiges Video, das Orbán im angeblich spontanen Gespräch mit einem Zeitungsverkäufer zeigt. Der Zeitungsverkäufer versichert, dass es zwar regierungskritische Blätter gebe, aber niemand diese kaufe. Orbán lässt die Bemerkung fallen, Reporter ohne Grenzen (RSF) „gehöre“ zu „Onkel George Soros“, dem in Ungarn geborenen Milliardär, der oft als Feindbild herhalten muss. RSF hat Viktor Orbán als ersten und bisher einzigen EU-Ministerpräsidenten auf die Liste der Feindinnen und Feinde der Pressefreiheit gesetzt. Grund sind die fortdauernden und systematischen Angriffe auf die freie Berichterstattung.
„Der ungarische Ministerpräsident mag Ironie und Spott für eine angemessene Reaktion halten“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Aber die ungarische Politik der Verfolgung des Journalismus wird mittlerweile in den europäischen Hauptstädten und anderswo sehr ernst genommen. RSF ist eine unabhängige Organisation, die gemäß ihren Werten die Pressefreiheit weltweit verteidigt.“
RSF fordert die Europäische Kommission auf, endlich wirksame Werkzeuge gegen die Aushöhlung der Medienfreiheit in einem ihrer Mitgliedsländer zu entwickeln. Der Anfang des Jahres in Kraft getretene Rechtsstaatsmechanismus wird aufgrund der geforderten Einstimmigkeit wohl zahnlos bleiben. Derzeit wird er ohnehin durch die Regierungen in Ungarn und Polen blockiert.
„Viktor Orbán steht zu Recht auf der Liste der Feindinnen und Feinde der Pressefreiheit“, sagt RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Er lässt zwar keinen Journalisten zerstückeln, wie es dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman vorgeworfen wird. Er lässt auch keinen kritischen Journalisten per Flugzeug entführen wie Alexander Lukaschenko in Belarus. Aber Viktor Orbán ist persönlich für den Verfall der Pressefreiheit im EU-Land Ungarn verantwortlich. Dieser Verfall ist dramatisch, weil er den Regierungschefs anderer Länder als Vorbild dient. Und er geschieht systematisch, weil Orbán geschickt und wie aus dem autokratischen Drehbuch vorgeht. Dem muss die EU viel entschiedener entgegentreten, als sie das bisher tut.“
Der EU-Rechtsstaatsmechanismus koppelt Subventionen für EU-Länder an die Rechtsstaatlichkeit. Das ist sinnvoll, muss allerdings endlich auch umgesetzt werden. Bereits Ende vergangenen Jahres hat RSF zehn Empfehlungen an die EU formuliert, wie sie auf die aktuellen Herausforderungen für Demokratie und Grundrechte reagieren sollte.
Dass Viktor Orbán es für nötig hält, eine großangelegte Werbekampagne in vielen europäischen Zeitungen zu bezahlen, zeigt, dass er sich seines negativen Images durchaus bewusst ist. Die Kampagne setzt sieben pointierte Vorschläge entgegen, die eher Forderungen gleichkommen. Das Geld für die Kampagne kommt allerdings von den ungarischen Steuerzahlenden. Sie werden ein weiteres Mal für Orbáns Ziele eingespannt. Dass eines seiner Kernziele ist, die Medien auf Linie zu bringen, beweist er seit Jahren.
Zentralisierung und Kontrolle direkt nach dem Wahlsieg 2010
Direkt nach seiner erneuten Wahl zum Ministerpräsidenten im Mai 2010 begann Orbán mit dem Umbau der ungarischen Medienlandschaft. Mit der Gründung der staatlichen Medienholding MTVA am 1. Januar 2011 zentralisierten Orbán und seine Fidesz-Partei zunächst die öffentlich-rechtlichen Rundfunksender und brachten anschließend Schritt für Schritt die gesamte Medienlandschaft unter ihre Kontrolle. Dazu schuf die Regierung die Nationale Medien- und Kommunikationsbehörde NMHH, deren Mitglieder ausschließlich sie selbst ernannte und die sie mit umfangreichen Kompetenzen ausstattete: Die NMHH ist für sämtliche in Ungarn erscheinenden Medien zuständig. Sie kontrolliert den Inhalt von Beiträgen auf „politische Ausgewogenheit“ und kann bei Verstößen hohe Geldstrafen verhängen.
RSF kritisierte im Februar 2011 die massiven Verstöße gegen Grundsätze der Pressefreiheit im ungarischen Mediengesetz, zugleich aber auch die Europäische Union. Denn schon damals bemängelte RSF, dass die EU-Kommission nicht in der Lage war, den Grundrechteschutz im Bereich der Pressefreiheit gegenüber Mitgliedstaaten durchzusetzen. Zwar ließ Orbán das Gesetz anpassen, allerdings nur in Nebenaspekten. Heute sind die öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Rundfunkanstalten zu einem Propagandaorgan der Regierung geworden.
Zur MTVA gehört auch Ungarns einzige Nachrichtenagentur MTI. Die Agentur bietet ihre Dienste kostenfrei an, was zu einer massiven Verdrängung anderer Wettbewerber auf dem Markt geführt hat. MTI ist vor allem bei finanzschwachen Medien zum alleinigen Nachrichtenlieferanten geworden. Mehrere hundert Redakteurinnen und Redakteure, viele von ihnen regierungskritisch, haben im Zuge der Umstrukturierungen schon damals ihre Arbeit verloren. Immer wieder gibt es Berichte, dass zum Teil direkt und aus höchsten Regierungskreisen vorgegeben wird, wie berichtet werden soll. Besonders verzerrt war die Berichterstattung über die Migration in Deutschland: Zufällige deutsche Passanten, die für eine der Hauptnachrichtensendungen im ungarischen Fernsehen zur Kriminalität von Geflüchteten befragt wurden, entpuppten sich als AfD-Politikerinnen und -Politiker. Das erfuhr das TV-Publikum in Ungarn jedoch nicht.
Die regionale Presse ist seit dem Sommer 2017 vollständig im Besitz Orbán-freundlicher Unternehmer. In den Monaten vor der ungarischen Parlamentswahl 2018 zeigte sich das Ungleichgewicht im stark polarisierten Mediensystem besonders deutlich. Durch die erdrückende Übermacht Fidesz-naher Medien vor allem im Rundfunk waren Kandidatinnen und Kandidaten der Opposition kaum Gegenstand sachlicher Berichterstattung, sondern vor allem Ziel von Verleumdungskampagnen. Orbáns Fidesz-Partei gewann die Wahl deutlich.
Repressionen, Entlassungen und schwarze Listen
Im Herbst 2018 fasste die Regierung knapp 500 regierungsnahe Medienunternehmen in der Kesma-Holding zusammen, um ihre Berichterstattung zentral zu koordinieren. Wichtige unabhängige Medien hingegen ließ Orbán ausschalten. Mitte 2020 entließ der Orbán-nahe neue Besitzer des landesweit meistgelesenen Nachrichtenportals Index.hu dessen Chefredakteur. Aus Protest kündigte praktisch die gesamte Redaktion. Anfang 2021 verlor Klubrádió endgültig seine Sendelizenz. Der kritische Radiosender litt seit vielen Jahren unter Repressionen der Behörden. Die Europäische Kommission hat im Juni deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet.
Auch die überregionalen Zeitungen Népszabadság und Magyar Nemzet wurden eingestellt. Regierungskritische und investigative Berichte finden über kleinere Online-Medien nur noch geringe Verbreitung. Zudem haben regierungsnahe Medien wiederholt schwarze Listen unliebsamer Journalistinnen und Journalisten veröffentlicht. Darauf fanden sich ungarische, aber im April 2018 zum Beispiel auch deutsche Medienschaffende. Die regierungstreue Tageszeitung Magyar Idök griff den freien Journalisten Keno Verseck an, der für Spiegel und Deutsche Welle aus Ungarn berichtet.
Im Schatten der Corona-Krise schließlich hat Orbán seine umfangreichen Machtbefugnisse weiter zementiert. Das ungarische Parlament schuf Ende März 2020 einen neuen Straftatbestand: Die Verbreitung von Fake News. Wer öffentlich Nachrichten verbreitet, die als falsch oder verzerrt eingestuft werden, konnte mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Was als wahr oder falsch gilt, entscheidet in erster Instanz die Regierung selbst. Mit solchen Gesetzen und Verordnungen zwingt Viktor Orbán kritische Journalistinnen und Journalisten entweder auf Linie oder zur Selbstzensur. Zuletzt hat sich die Regierung ein weiteres Werkzeug zurechtgelegt, mit Blick auf die Parlamentswahlen im Jahr 2022 Zugriff auf die verbleibenden unabhängigen Medien zu erlangen: Eine neue Verordnung erlaubt es Orban, jegliche Änderung in deren Eigentümerverhältnissen zu blockieren.
Seit seinem Amtsantritt 2010 hat Ungarn europaweit beispiellos viele Plätze auf der RSF-Rangliste der Pressefreiheit verloren. Von damals Platz 23 fiel das Land auf Rang 92 im aktuellen Jahr ab. Die schlechtesten Werte erhält Ungarn vor allem in der Kategorie „Unabhängigkeit der Medien“.
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