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Ungarn

Rangliste der Pressefreiheit — Platz 67 von 180
Ungarn 12.07.2022

Mitten in Europa schwindet die Pressefreiheit

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán schaut nach vorn.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán. © Gabriel Bouys / AFP

Auch nach seiner Wiederwahl ist vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán nichts Positives in Bezug auf die Pressefreiheit zu erwarten. Im Gegenteil: Seit dem Sieg Orbáns und seiner Partei Fidesz bei der Parlamentswahl im April hat die politisierte Medienaufsicht erneut die unabhängigen Radios ins Visier genommen. Zudem plant die Regierung eine Werbesteuer, welche die ohnehin schrumpfende Medienvielfalt weiter schwächen könnte. Reporter ohne Grenzen (RSF) fordert die europäischen Institutionen auf, sich stärker für die Rettung des ungarischen Journalismus einzusetzen.

Viktor Orbán und sein Netzwerk an Getreuen in Politik und Wirtschaft halten die unabhängigen Medien in eisernem Griff“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Noch kann sich die EU dagegen wehren. Wir fordern den EU-Rat dazu auf, bei der nächsten Anhörung im Rahmen des Sanktionsmechanismus nach Artikel 7 von den ungarischen Behörden eine Erklärung zu verlangen, warum sie unabhängigen Radiosendern die Lizenzen verweigert.“

Neben dem bekanntesten Sender Klubradio ist auch Tilos Radio betroffen. Der EU-Rat als Institution, welche die EU-Mitgliedstaaten vertritt, sollte die ungarische Regierung auch zu der angekündigten Werbesteuer befragen. Diese könnte vor allem regierungskritische Blätter finanziell schwächen. Die Europäische Kommission ihrerseits muss die ungarische Medienaufsichtsbehörde im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren dazu drängen, die Diskriminierung einzelner Medien zu beenden. Zugleich muss im geplanten europäischen Gesetz zur Medienfreiheit die Unabhängigkeit der nationalen Aufsichtsbehörden gestärkt werden. RSF fordert zudem das Europäische Parlament auf, das Versagen der ungarischen Institutionen beim Schutz von Medienschaffenden vor willkürlicher Überwachung zu untersuchen.

Ungarn steht unter Verdacht, Medien mit Pegasus zu überwachen

Ende Juni trafen sich Vertreterinnen und Vertreter ungarischer Behörden in Budapest auf Einladung des Europarats mit RSF und anderen Pressefreiheitsorganisationen. Für Reporter ohne Grenzen nahm Pavol Szalai teil, der Leiter der Europa-Abteilung bei RSF in Paris. Bedenken, etwa aufgrund der jüngsten kritischen Berichte der Europäischen Kommission zur Rechtsstaatlichkeit und der Vereinten Nationen zur Situation der Menschenrechte in Ungarn, blockten die Behörden jedoch brüsk ab.

Zoltán Kovács etwa, Staatssekretär und Sprecher von Ministerpräsident Viktor Orbán, weigerte sich, den Einsatz der Überwachungssoftware Pegasus gegen Medienschaffende zu erklären. Seit 2019 waren mindestens drei ungarische Journalisten mit der mächtigen Spyware des israelischen Herstellers NSO Group überwacht worden, das EU-Parlament ermittelt. Kovács verwies auf die Vertraulichkeit und Vorgaben nationaler Sicherheit. Das jedoch widerspricht der Forderung nach Transparenz, die der UN-Menschenrechtsausschuss schon 2018 an Ungarn gerichtet hatte. Die Behörden in Budapest haben offiziell kein Fehlverhalten festgestellt: Mitte Juni konstatierte die ungarische Staatsanwaltschaft, es habe keine unbefugte Überwachung gegeben. Im Januar hatte bereits der Daten-Ombudsmann jegliche Rechtsverletzung zurückgewiesen.

Glaubt man Zoltán Kovács, ist der Medienrat ein unabhängiges Gremium mit rechtmäßig ausgewählten Mitgliedern. Allerdings wurden alle diese Mitglieder von der Regierungsmehrheit ernannt. Der Staatssekretär wies zudem die Stellungnahme der Europäischen Kommission zurück, die im Juni 2021 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet hatte. Den Verstoß gegen EU-Recht sah die Kommission in der „intransparenten“, „unverhältnismäßigen“ und „diskriminierenden“ Entscheidung des Medienrats, dem unabhängigen Sender Klubradio die Frequenz zu entziehen. Kovács‘ Gegenargumente: Ein kürzlich ergangenes Urteil des ungarischen Obersten Gerichtshofs habe die Entscheidung des Medienrats bestätigt. Zudem habe die Europäische Kommission den ungarischen Rechtsrahmen im Jahr 2011 „zertifiziert“. Gegenüber Reporter ohne Grenzen konnte sein Sekretariat jedoch keine Einzelheiten zu diesem angeblichen Zertifikat nennen.

Unzureichend begründete Entscheidungen der Medienaufsichtsbehörde

Bei dem Treffen in Budapest warf Zoltán Kovács den Pressefreiheitsorganisationen vor, „immer politischer“ zu werden. Das Hauptproblem der Medien seien schlechte journalistische Standards. Der größte unabhängige Radiosender, Klubradio, der seine 200.000 täglichen Hörerinnen und Hörer nur noch über das Internet erreichen kann, ist Kovács‘ Ansicht nach ein „Randradio“.

Aufgrund einer kleinen Zahl administrativer Fehler des Senders hatte der Medienrat entschieden, Klubradio vom Netz zu nehmen. Weder für diese noch für die jüngste Entscheidung lieferte das Gremium eine nachvollziehbare Begründung: Ende Juni wurde die ehemalige Frequenz von Klubradio im Rahmen einer öffentlichen Ausschreibung einem anderen Bewerber, Spirit FM, zugeteilt. Bereits 2021 hatte der Medienrat die ehemalige Klubradio-Frequenz für mehrere Monate vorläufig an Spirit FM vergeben, ohne öffentliche Ausschreibung und nur auf Antrag dieses Senders. Auch hierfür blieb der Medienrat eine Erklärung schuldig.

Geplante Anzeigensteuer könnte die Medienvielfalt weiter schwächen

Die RSF-Delegation traf in Ungarn auch mit 15 unabhängigen Medien und Journalistenverbänden zusammen. Mehrere Medienschaffende äußerten sich besorgt über ihre berufliche Zukunft. Ein Chefredakteur begründete den erheblichen Rückgang der Verkaufszahlen seiner Zeitung nach den Wahlen im April mit der allgemeinen Frustration der Leserschaft. Immer wieder schien sich auch unter den ungarischen Journalistinnen und Reportern eine gewisse Desillusionierung angesichts der politischen Realität zu zeigen.

Sorgen macht vor allem die geplante Einführung einer Steuer auf in den Medien geschaltete Anzeigen. Von der Regierung inmitten der anhaltenden Wirtschaftskrise angekündigt, könnte die Abgabe gerade die regierungskritischen Blätter finanziell schwächen. Viktor Orbáns Sprecher nannte keine Einzelheiten, schloss aber aus, dass die Steuer absichtlich „gegen irgendein Medienunternehmen“ eingesetzt werden könne. Allerdings könnten Medien durch eine zusätzliche finanzielle Belastung noch anfälliger für die Übernahme durch Oligarchen, die der Regierungspartei Fidesz nahestehen, werden.

Neben der ungerechten Verteilung von Regierungswerbung, dem ungenügenden Zugang zu öffentlichen Informationen oder dem Gesetz, das die Verbreitung von angeblichen Fake News unter Strafe stellt, wäre die Anzeigensteuer eine weitere Maßnahme, die Pressefreiheit empfindlich zu schwächen.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Ungarn auf Platz 85 von 180 Staaten.



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