Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan (BAP)
Seit die Taliban die Kontrolle über Afghanistan haben, sind zahlreiche Afghaninnen und Afghanen bedroht und verfolgt worden, oft weil sie für Menschenrechte und Demokratie eintreten, wegen ihrer Zusammenarbeit mit westlichen Regierungen oder internationalen Organisationen, wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung. Deswegen hat die Bundesregierung fast 44.000 Afghaninnen und Afghanen und ihren Familienangehörigen, die sich in einer solchen Situation befinden, in Aussicht gestellt, nach Deutschland zu kommen. Über 30.000 sind bereits nach Deutschland eingereist.
Am 17.10.2022 verkündete die Bundesregierung den Start ihres Bundesaufnahmeprogramms für Afghanistan (BAP), um dem Chaos rund um die Evakuierungen von Ortskräften und Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern unmittelbar nach der Machtübernahme einen geordneten Rahmen zu geben. Ein Jahr nach Start dieses Programms ist lediglich eine Handvoll Afghaninnen und Afghanen auf dieser Grundlage nach Deutschland eingereist. Geplant waren jedoch 1.000 Aufnahmezusagen pro Monat.
1. Gefährdung in Afghanistan
Zahlreiche Afghaninnen und Afghanen sind in ihrem Land in akuter Gefahr. Die Gründe sind vielfältig; regimekritischer Journalismus ist nur einer davon.
2. Anfrage bei Meldestelle (z. B. RSF)
Schutzsuchende können sich nicht selbst für das Bundesaufnahmeprogramm bewerben und ihre Daten eigenständig eintragen. Dies können nur ausgewählte Organisationen in Deutschland tun, die sich als „meldeberechtigte Stellen“ für das Bundesaufnahmeprogramm registrieren lassen. Viele Organisationen wollen und können nicht staatliche Aufgaben übernehmen. Das erschwert den Zugang zum Bundesaufnahmeprogramm für Betroffene sehr, da sie nicht wissen, an welche NGO sie sich wenden können. Seit der Ankündigung des Bundesaufnahmeprogramm sind ca. 100.000 Hilfsanfragen bei den meldeberechtigten Stellen eingegangen.
3. Plausibilitätsprüfung
Ist ein Antrag bei einer der über 70 meldeberechtigten Stellen eingetroffen, führt diese eine Plausibilitätsprüfung durch. Bei RSF beinhaltet dies konkret zu recherchieren, ob die Person journalistisch tätig war und ob es plausibel erscheint, dass diese wegen ihrer kritischen Berichterstattung gefährdet ist. Nach positiver Belegung dieser ersten Prüfung generiert die meldeberechtigte Stelle einen personalisierten Link zum IT-Tool der Koordinierungsstelle. Die Koordinierungsstelle dient als Schnittstelle zwischen der Bundesregierung und den meldeberechtigten Stellen.
4. IT-Tool der Koordinierungsstelle
Anhand dieses Links müssen die Antragstellenden rund 90 Fragen zur Person, Familienmitgliedern und ihrer Gefährdung beantworten, damit das Programm den Risikograd bestimmen kann. Zum Beispiel wird die Häufigkeit eines erlebten sexuellen Übergriffs mittels eines Multiple-Choice-Verfahrens abgefragt: Wählen Sie "1 - einmal, 2 - mehrmals (zwei bis fünf Mal), 3 - häufig (mehr als fünf Mal)" aus dem Dropdown-Menü. Diese Multiple-Choice-Fragen müssen für jeden möglichen Verfolgungsgrund beantwortet werden. Freitextangaben gibt es nur sehr begrenzt, was die Berichterstattung der individuellen Gefährdungserfahrung sehr erschwert: Eine Person, die nachweislich fünf Mal verhaftet wurde, kann potenziell durch dieses System mehr Punkte erreichen als eine Person, die bei drei Verhaftungen fast zu Tode gefoltert wurde. Dies wird jedoch nicht abgefragt. Anschließend prüfen meldeberechtige Stellen erneut die Angaben, fragen bei unklaren Antworten nach oder bitten um das Hochladen von weiteren Belegen und Dokumenten.
5. Plausibilitätsprüfung durch Koordinierungsstelle
Sobald sich alle benötigten Dokumente und Informationen im IT-Tool befinden, überprüft die Koordinierungsstelle erneut die Genauigkeit der Angaben und inwiefern diese den strengen Kriterien des Bundesaufnahmeprogramms entsprechen.
Neben der Überprüfung von Fällen durch meldeberechtigte Stellen befinden sich im IT-Tool der Koordinierungsstelle noch über weitere 41.000 Fälle, welche diese betreut.
6. Händische Datenübertragung ins IT-Tool des BAP
Sobald die Koordinierungsstelle eine Freigabe erteilt, übertragen die meldeberechtigten Stellen jede Antwort und laden jedes Dokument händisch von dem IT-Tool der Koordinierungsstelle in das IT-Tool des Bundesaufnahmeprogramms. Zurzeit (Stand: 26.09.2023) befinden sich ca. 4.200 Fälle im IT-Tool des BAP.
7. Monatliche Auswahlrunden nach Punktesystem
Anhand dieser Antworten und Dokumente wird der Grad der Gefährdung durch ein Punktesystem ermittelt, das bestimmt, wie schnell die betreffende Person gerettet werden soll. Vertreterinnen und Vertreter der Ministerien empfehlen einmal im Monat Fälle für eine Aufnahmezusage. Danach beginnt ein mehrstufiges Verfahren zur Überprüfung der Daten und der Person bis hin zur Erteilung einer Aufnahmezusage. Es ist nicht bekannt, wie gründlich die Schlussfolgerungen des Punktesystems überprüft werden und nach welchen Standards.
Bis dato (Stand: 26.09.23) gab es acht Auswahlrunden, in welchen 210 Hauptpersonen ausgesucht wurden (inklusive Familienangehörige sind es 570 Personen).
8. Kontaktaufnahme zur Dokumentenprüfung
Personen, die in diesen Auswahlrunden ausgesucht wurden, werden daraufhin von Mitarbeitenden des Bundeaufnahmeprogramms kontaktiert, um nach Originaldokumenten zum Abgleich befragt zu werden oder um weitere Information zu erbeten.
9. Reise nach Pakistan
Nach der positiven Dokumentenprüfung, darf die antragstellende Person samt der Familie nach Islamabad in Pakistan reisen. Die Reise in das Nachbarland ist für Antragstellende mit hohen Kosten für gültige Pässe und Visa, immensen Sicherheitsproblemen und oftmals viel Zeitaufwand verbunden. In Pakistan wird den Familien eine Unterkunft durch die Bundesregierung gestellt; auch für ihre Verpflegung wird gesorgt.
10. Warten auf einen Termin für das Sicherheitsinterview
Die Wartezeit kann mehrere Wochen oder Monate dauern. Dadurch entsteht Zeitdruck, da von der pakistanischen Regierung nur dreimonatige Visa ausgestellt werden, die häufig auslaufen, bevor das Verfahren abgeschlossen ist, sodass die Betroffenen sich dann illegal in Pakistan aufhalten und jederzeit nach Afghanistan abgeschoben werden könnten. An den Sicherheitsinterviews müssen alle Afghaninnen und Afghanen über 16 Jahre teilnehmen. Die Interviews werden von Beamtinnen und Beamten des Deutschen Sicherheitsapparats durchgeführt und können zwischen zwei und vier Stunden dauern. Sie können Fragen zur Gefährdung, zur eigenen Person und zur allgemeinen Weltanschauung beinhalten.
Bis dato (Stand: 26.09.23) gab es 20 Interviews für Afghaninnen und Afghanen durch das Bundesaufnahmeprogramm.
11. Erneute Überprüfung durch BAMF
Nach der Prüfung durch die meldeberechtigte Stelle und die Koordinierungsstelle, der Überprüfung durch das Sekretariat des Bundesaufnahmeprogramms und des Deutschen Konsulats in Pakistan sowie der Beamtinnen und Beamten bei den Sicherheitsinterviews überprüfen Mitarbeitende des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge noch einmal alle Informationen und die eingereichten Dokumente.
12. Aufnahmezusage
Im besten Fall erhalten besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen im letzten Schritt ihre Aufnahmezusage. Anschließend müssen sie sich um ein Ausreisevisum für Pakistan kümmern. Ein Visum für Deutschland, sowie die Reise nach Deutschland werden von der Bundesregierung organisiert.
Informationsstand 26.09.23: Es wird die Einreise von 13 Afghaninnen und Afghanen durch das Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan (BAP) in den kommenden zwei Wochen ermöglicht.
Bilanz
Die Bilanz nach einem Jahr Bundesaufnahmeprogramm: Das Ziel, die am meisten gefährdeten Personen so schnell wie möglich aus Afghanistan zu holen, wird mit diesem Programm nicht erreicht. Das BAP stellt eine absurde Bürokratie dar, welche nur langsam Aufnahmezusagen vergibt und Einreisen nach Deutschland ermöglicht.
Weitere Informationen zu unserer Bilanz nach einem Jahr BAP finden Sie hier in der Pressemitteilung.
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