Türkei
07.11.2016
Prozessbeginn gegen ROG-Korrespondent
Reporter ohne Grenzen fordert die türkische Justiz auf, sämtliche Anschuldigungen gegen den Türkei-Korrespondenten der Organisation fallen zu lassen. Erol Önderoglu muss sich von Dienstag an in Istanbul zusammen mit der Vorsitzenden der Türkischen Menschenrechtsstiftung, Sebnem Korur Fincanci, und dem Cumhuriyet-Kolumnisten Ahmet Nesin vor Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen wegen ihrer Teilnahme an einer Solidaritätsaktion mit der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem „Propaganda für eine terroristische Organisation“ vor. Auch Özgür-Gündem-Chefredakteur Inan Kizilkaya steht von Dienstag an vor Gericht.
„Dass mit Erol Önderoglu nun ein Mensch selbst auf der Anklagebank sitzt, der sich sonst immer für andere Verfolgte einsetzt, macht das ganze Ausmaß der Repression greifbar“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Allein für ihre Solidarität mit der verfolgten pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem drohen Dutzenden Journalisten und Intellektuellen Haftstrafen. Auf die willfährige türkische Justiz wagt man für sie kaum noch zu hoffen. Deshalb brauchen Erol Önderoglu und seine Mitangeklagten größtmögliche internationale Unterstützung, damit sie ihren Einsatz für die Menschenrechte in der Türkei fortsetzen können.“
Anschuldigungen wegen Solidaritätsaktion mit pro-kurdischer Zeitung
Önderoglu, Fincanci, und Nesin waren am 20. Juni in Istanbul verhaftet und erst nach zehn Tagen und internationalen Protesten – unter anderem von UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon – unter Auflagen freigelassen worden. Ebenso wie mehr als 40 weitere Journalisten und Prominente hatten sie jeweils für einen Tag symbolisch den Posten des Chefredakteurs von Özgür Gündem übernommen, um ihre Solidarität mit der Zeitung zu demonstrieren, die unter immer stärkerem Druck der Behörden stand.
Im August ließ ein Gericht die Räume der Zeitung wegen angeblicher Verbreitung von Propaganda für die verbotene kurdische Untergrundorganisation PKK versiegeln, am 29. Oktober wurde das Blatt per Regierungsdekret endgültig geschlossen. Chefredakteur Kizilkaya ist seit dem 16. August in Haft.
Önderoglu werden insbesondere drei am 18. Mai in Özgür Gündem erschienene Artikel zur Last gelegt, in denen es um Machtkämpfe innerhalb der türkischen Sicherheitskräfte und Einsätze gegen die PKK in Südostanatolien ging. Die Staatsanwaltschaft stützt sich dabei auf die umstrittenen Anti-Terror-Gesetze, die auch immer wieder gegen Özgür Gündem eingesetzt worden sind.
Erol Önderoglu ist seit 1996 Türkei-Korrespondent von Reporter ohne Grenzen. Daneben verfasst er die Quartalsberichte der alternativen türkischen Nachrichtenagentur Bianet zum Stand der Meinungsfreiheit in der Türkei, arbeitet regelmäßig mit der OSZE zusammen und ist Vorstandsmitglied von IFEX (International Freedom of Expression Exchange), einem weltweiten Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Meinungsfreiheit einsetzen.
Lange Liste von Prozessen gegen Journalisten
Der Prozess gegen Önderoglu, Financi und Nesin reiht sich ein in eine lange Liste von Prozessen gegen Journalisten, die auf der Grundlage der türkischen Anti-Terror-Gesetze strafrechtlich verfolgt werden. So wird am 16. November der Prozess gegen den ehemaligen Chefredakteur der unabhängigen Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar, und den Hauptstadtbüroleiter des Blattes, Erdem Gül, wegen angeblicher Unterstützung einer terroristischen Organisation fortgesetzt.
Dieser Prozess wurde von dem Verfahren abgekoppelt, in dem Dündar und Gül wegen vermeintlicher Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen im Mai in erster Instanz zu fünf Jahren und zehn Monaten bzw. zu fünf Jahren verurteilt wurden. Gegen das Urteil haben beide Berufung eingelegt. ROG unterstützt Dündar und Gül seit einem Jahr intensiv durch Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit sowie Dündar inzwischen auch mit einem Überbrückungsstipendium und in Behördenangelegenheiten in seinem derzeitigen Exil in Deutschland.
Ende Oktober begann der Prozess gegen den ehemaligen Nachrichtenchef des pro-kurdischen Fernsehsenders IMC-TV, Hamza Aktan. Die Justiz beschuldigt ihn, sich mit Kurznachrichten auf Twitter an terroristischer Propaganda beteiligt zu haben. Seine Verteidiger machten zu Prozessbeginn geltend, die Tweets riefen nicht zu Gewalt auf und stammten zum Teil gar nicht von ihrem Mandanten.
Allein im dritten Quartal dieses Jahres standen in der Türkei laut Bianet 117 Journalisten wegen Vorwürfen auf Grundlage der Anti-Terror-Gesetze vor Gericht. Für sie verlangten die Staatsanwaltschaften insgesamt 880 Jahre und sechs Monate Haft. Dutzende weitere Journalisten mussten sich wegen Vorwürfen wie Mitgliedschaft in bzw. Unterstützung einer terroristischen Organisation, Veröffentlichung vertraulicher Dokumente zur nationalen Sicherheit oder Verunglimpfung des Präsidenten verantworten. Insgesamt liefen im dritten Quartal Prozesse gegen 226 Journalisten, denen Haftstrafen von insgesamt 2235 Jahren und vier Monaten drohten.
Schon vor dem Putschversuch hatten Journalisten in der Türkei massiv unter den zunehmend autoritären Zügen von Präsident Erdogan und seiner Regierung zu leiden. Seit der Verkündung des Ausnahmezustands hat die Repression gegen Journalisten ein nie gekanntes Ausmaß erreicht. Momentan sitzen mindestens 130 Journalisten in der Türkei in Haft. Unter dem Ausnahmezustand kann die Polizei Verdächtige für 30 statt zuvor vier Tage ohne Haftbefehl festhalten. In den ersten fünf Tagen nach einer Festnahme kann ihnen der Zugang zu einem Anwalt verwehrt werden.
Die Türkei stand schon vor dem Putschversuch im Juli auf der jährlichen Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 151 von 180 Staaten.
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