Lokaljournalismus unter Druck
07.10.2020 - Matt Grossmann ist Professor für Politikwissenschaft und kennt die lokalen Medien seiner Heimatstadt Lansing, Michigan eigentlich ganz gut. Er war daher ziemlich überrascht, als er im Herbst 2019 auf Facebook plötzlich einem lokalen Online-Portal namens The Lansing Sun begegnete, von dem er noch nie gehört hatte. Und der Politik-Experte Grossmann wunderte sich noch über etwas Anderes: Was sich da als neues Lokalmedium präsentierte, hatte einen auffallend konservativen politischen Einschlag.
Wie Grossmann sowie Journalistinnen und Journalisten der traditionsreichen Lokalzeitung Lansing State Journal herausfanden, war in Michigan ein ganzes Netzwerk von etwa 40 Webseiten dieser Art innerhalb weniger Tage online gegangen.
Forscherinnen und Forscher der Columbia University sind auf Hunderte weitere Beispiele in den ganzen USA gestoßen. Und sie haben festgestellt, dass die Zahl dieser vorgeblichen Lokaljournalismus-Portale in den Monaten vor der Präsidentenwahl 2020 deutlich angewachsen ist: Sowohl konservative als auch liberale Organisationen, Geldgeberinnen und Geldgeber versuchen offenbar, Lücken in der lokalen Medienlandschaft für politische Zwecke zu nutzen.
Dieses Phänomen ist eines von vielen Symptomen einer tiefgreifenden Krise im Mediensystem der USA: des tausendfachen Sterbens lokaler Medien.
Lokaljournalismus ist Grundpfeiler des US-Mediensystems
Die Tausenden Lokalzeitungen sowie lokale Fernseh- und Radiosender sind aus dem US-Alltag eigentlich nicht wegzudenken. Die US-Amerikanerinnen und Amerikaner vertrauen ihren lokalen Medien deutlich mehr als den großen überregionalen Titeln und Sendern. Und für viele Menschen spielen lokale Medien eine sehr wichtige Rolle für den Zusammenhalt vor Ort.
Zwei Jahrhunderte lang hat das System der lokalen Medien in den USA gut funktioniert. Zuerst waren es die lokalen Zeitungen, später auch lokale Radio- und Fernsehsender, die die Menschen im ganzen Land mit Informationen versorgten. Es entstanden zahlreiche größere und kleinere Medienimperien. Deren Geschäftsmodell basierte einerseits auf zahlenden Abonnentinnen und Abonnenten, andererseits auf Werbeeinnahmen.
Der Trend der vergangenen Jahre ist allerdings eindeutig: Im 21. Jahrhundert funktioniert dieses Geschäftsmodell nicht mehr. Die Zahl der Abonnentinnen und Abonnenten geht stark zurück, die Werbeeinnahmen brechen weg, vergleichsweise junge Unternehmen wie Google und Facebook dominieren inzwischen auch den Markt bei lokalen Werbekunden. In den vergangenen 15 Jahren haben mehr als 2.000 Zeitungen dichtgemacht, die Jobs von Zehntausenden Journalistinnen und Journalisten sind weggefallen.
„Größte Krise des amerikanischen Journalismus“
Wo lokale Medienhäuser schließen müssen, entstehen Lücken, die sich leicht mit Desinformation und Propaganda ausfüllen lassen. Oft sind es zum Beispiel lokale Facebook-Gruppen, die die Funktionen lokaler Medien übernehmen. Gruppen, in denen es in der Regel um die klassischen lokalen Themen geht, um Entscheidungen der Gemeindeverwaltung, um die Schule vor Ort oder um Flohmarkt-Angebote. Aber manchmal eben auch um Gerüchte und Verschwörungstheorien. Und das in einem Wahlkampf, der wie kein anderer zuvor von hanebüchenen Verschwörungstheorien auf Facebook und anderen Online-Medien bestimmt wird.
Das Sterben der Lokalmedien ist zwar schon seit langem im Gange, doch die Corona-Pandemie hat die Situation extrem verschärft – und das mitten im Wahlkampf. Die „größte Krise des amerikanischen Journalismus“ seien deshalb nicht die Anfeindungen von Präsident Donald Trump gegen die Presse, sondern der Niedergang der lokalen Nachrichtenmedien, sagt Dean Baquet, der Chefredakteur der New York Times.
„Nachrichtenwüsten“ breiten sich aus
Forscherinnen und Forscher in den ganzen USA beobachten die Entwicklung seit vielen Jahren sehr genau. Die größte Studie zum Niedergang von Lokalmedien entsteht an der University of North Carolina unter der Leitung von Penelope Abernathy. Abernathy hat maßgeblich den Begriff „news deserts“ geprägt: „Nachrichtenwüsten“. In immer mehr Landkreisen gibt es keine lokale Tageszeitung mehr. Über die vergangenen 15 Jahre haben 1.800 Gemeinen ihre lokalen Nachrichtenquellen verloren, in mehr als sechs Prozent aller US-Landkreise gibt es weder eine Tageszeitung noch eine andere lokale Redaktion.
Dazu kommt ein Phänomen, das Abernathy „ghost newspapers“ nennt – „Geisterzeitungen“. An vielen Orten existiert zwar noch eine Zeitung mit einem traditionsreichen Namen, dahinter stehen aber so gut wie keine eigenen Journalistinnen und Journalisten mehr. Es werden fast nur noch Inhalte aus anderen Redaktionen veröffentlicht, von den einst traditionsreichen Tageszeitungen bleibt nur noch der Name übrig.
Auch einen dritten Trend beschreiben Abernathy und ihr Team: Um Kosten zu sparen werden Redaktionen zusammengelegt, so dass Reporterinnen und Reporter oft weit entfernt sind von den Orten, über die sie schreiben. Und der Markt wird zunehmend von großen Zeitungskonzernen und Investmentfirmen kontrolliert, die kleinere Lokalzeitungen aufkaufen: Das größte Unternehmen dieser Art ist 2019 mit der Fusion der Medienkonzerne Gannett und Gatehouse entstanden und besitzt mehr als 600 Zeitungen.
Lokale Zeitungen besonders stark betroffen
Vor allem die lokalen Zeitungen stehen bei dieser Entwicklung im Fokus. Denn bei der Versorgung mit Informationen über lokale und regionale Themen spielen Tageszeitungen eine deutlich größere Rolle als lokale Fernseh- und Radiosender oder lokale Online-Portale. Mehrere Studien kommen zu dem Schluss, dass die meisten Berichte mit lokalem Bezug von Tageszeitungen stammen. Zeitungsredaktionen haben demnach auch eine größere Themenvielfalt. Lokale Fernsehnachrichten oder Online-Portale konzentrierten sich dagegen eher auf Themen wie Unfälle und Verbrechen, oft auch ohne tiefergehende Einordnung.
In den vergangenen zwölf Jahren haben die Hälfte der Journalistinnen und Journalisten bei US-Zeitungen ihre Stellen verloren. Auch die Corona-Krise dürfte Zeitungen besonders hart treffen. Das Forschungs- und Lehrinstitut Poynter kommt schon jetzt auf über 50 lokale Zeitungen, die seit Beginn der Corona-Krise komplett schließen mussten.
Nicht ohne Folgen für die Demokratie
Sterbende Lokalmedien bedeuten nicht nur den Verlust journalistischer Arbeitsplätze und traditionsreicher Unternehmen, sondern auch das Ende gesellschaftlicher Institutionen.
70 Prozent der Menschen in den USA sagen laut einer Umfrage der Knight-Stiftung, dass lokale Medien für die Demokratie sehr wichtig oder sogar entscheidend wichtig sind. Mehrere Studien aus der Politikwissenschaft und Soziologie zeigen, dass es tatsächlich Zusammenhänge gibt zwischen dem Zugang zu lokalen Medien und demokratischem und bürgerschaftlichem Engagement. Durch lokale Medien wissen Menschen, was in ihrer Region wichtig ist, und können auch nationale oder internationale Entwicklungen besser zum Leben vor Ort in Bezug setzen, etwa Themen wie den Klimawandel oder die Corona-Krise.
Lokale Medien erfüllen außerdem eine wichtige Funktion zur Kontrolle der Politik: Lokale Journalistinnen und Journalisten kennen sich aus in den Rathäusern und Verwaltungen vor Ort, sie verfolgen Sitzungen und Ausschüsse und können politische Entscheidungen und ihre Auswirkungen über Jahre hinweg beobachten. Wenn diese Kontrolle durch erfahrene Reporterinnen und Reporter wegfällt, bedeutet das zum Beispiel oft höhere Verwaltungskosten oder ein größeres Risiko für Korruption.
Amerikanerinnen und Amerikaner schätzen Lokaljournalismus
„Lokaljournalismus ist für die Menschen die erste Möglichkeit, eine Beziehung zum Journalismus aufzubauen und zu lernen, warum Journalismus wichtig ist“, sagt der Journalismus-Professor Jay Rosen von der New York University. Wenn diese Beziehung fehle, landeten Menschen viel eher in den Fängen von ideologischen Kanälen im Internet, die „nur darauf warten, sie an sich zu ziehen und ihnen ihre eigenen Vorurteile zu verkaufen.“
Die Amerikanerinnen und Amerikaner sehen durchaus den gesellschaftlichen Wert von lokalen Medien. Jeder Mensch in den USA sollte Zugang zu lokalen Nachrichten haben, sagten 86 Prozent der Befragten in einer Studie des Knight Center. Und 76 Prozent sagen, sie seien auf lokale Medien angewiesen, um sich informiert zu fühlen.
Die Krise kommt erst langsam in Bewusstsein
Einem Großteil der Menschen in den USA ist derselben Studie zufolge allerdings gar nicht bewusst, mit welchen Problemen der Lokaljournalismus kämpft. „Viele halten es für ganz selbstverständlich, dass es lokale Medien gibt“, sagt Journalismus-Professor Rosen. „Erst langsam bemerkt Amerika diese Krise.“
Nach und nach wird auch die Politik auf das Problem aufmerksam. Zahlreiche Abgeordnete beider Parteien im US-Abgeordnetenhaus und US-Senat haben Anfang 2020 jeweils Briefe an Präsident Trump geschickt. Angesichts der Corona-Pandemie fordern sie ihn auf, lokale Medien zu unterstützen, um die Versorgung der Bevölkerung mit Informationen sicherzustellen. Gleichzeitig gibt es Vorschläge für neue Gesetze zur Unterstützung des Lokaljournalismus und für eine Untersuchungskommission, um dazu konkrete Vorschläge an den Kongress zu erarbeiten.
Neuerfindung des Lokaljournalismus
Es sind aber vor allem Lokaljournalistinnen und -journalisten, die gemeinsam mit Nutzerinnen und Nutzern lokaler Medien nach neuen Lösungen suchen.
Viele ehemalige Tageszeitungen setzen weiterhin auf eine Mischung aus Abonnements und Werbeeinnahmen, drucken aber nur noch eine Ausgabe pro Woche oder veröffentlichen ausschließlich digital. Einige von ihnen haben diesen Wandel allerdings nicht lange überlebt – die Konkurrenz nationaler Medien-Ketten und anderer Online-Plattformen ist groß, der digitale Werbemarkt fest im Griff von Unternehmen wie Google und Facebook.
Oft sind es kleine Initiativen von erfahrenen Journalistinnen und Journalisten, die in den vergangenen Jahren erfolgreich waren. In vielen Fällen als sehr lokal ausgerichtete Veröffentlichungen mit kleiner Auflage. Oder auch als per E-Mail verschickte Newsletter, für die sich inzwischen immer mehr zahlende Abonnentinnen und Abonnenten finden.
Viele der erfolgreicheren Lokaljournalismus-Projekte versuchen sich dabei auch an neuen Geschäftsmodellen: Die Journalistinnen und Journalisten verlassen sich weniger auf Werbeeinnahmen, sondern setzen mehr auf Spenden oder Mitgliedsbeiträge. Einige Projekte setzen auf nicht-kommerzielle Modelle oder verstehen sich als Bürgermedien. Auch etablierte nicht-kommerzielle Anbieter haben ihre lokale und regionale Berichterstattung verstärkt wie zum Beispiel die zahlreichen lokalen Rundfunksender in Verbünden wie NPR, APM oder PBS.
Ein ungelöstes Problem
Auch wenn es also zahlreiche Ansätze gibt: Nach einer guten Lösung für das vielschichtige Problem der sterbenden Lokalmedien wird nach wie vor gesucht. Denn es geht nicht nur um die Neuerfindung einer ehemals extrem einflussreichen und finanzstarken Branche. Vor allem geht es um die Frage, wie die Bürgerinnen und Bürger der US-amerikanischen Demokratie auch künftig an verlässliche Informationen kommen.
Timo Metzger
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